50 Jahre Hirschlyrik / Von Walter Vitt

Da tut Aufklärung not.

Wir - als die Erfinder und frühen Verbreiter der Hirschlyrik - wollen sie leisten. Ich wiederhole deshalb: die Hirschlyrik hat eine Geburtsstunde und hat Geburtshelfer. Alles begann im westfälischen Münster im Institut für Publizistik, - und alles geht bis in die Jahre 1959 bis 1961 zurück. Deshalb können wir aufklärend sagen: 50 Jahre Hirschlyrik. Publizistikstudenten dichteten im Karneval 1959 drauflos, drei von ihnen - Eckehard Munck, Hendrik W. Höfig und Walter Vitt - taten sich damit an vorderster Stelle hervor, sammelten die Verse, wie die Gebrüder Grimm Märchen gesammelt haben, und veröffentlichten sie. Sie taten dies nach über zweijährigem »Brüten« über dem reizvollen forstlyrischen Stoff und fügten eine Interpretation und andere Anlagen hinzu, und Robert Eid, der in Göttingen studierte, lieferte seine wundervoll komischen Zeichnungen dazu.

Diese Sammlung erschien zuerst im Februar 1961 in der münsterschen Studentenzeitung »Semesterspiegel«, deren Chefredakteur ich damals war, und anschließend - zwei Monate später im April 1961 - als selbständige, schnell vergriffene Publikation unter dem Titel

Hieronymus Hörnle und Hubertus Röhrer:
Anthologie der Forstlyrik
oder: Allgemeinverständliche Einführung
in Hirschlogik, Hirschgeist und
Forstpoesie,
Zusammengestellt von Eckehard Munck, Hendrik W. Höfig und Walter Vitt,
mit Illustrationen u.a. von Robert Eid,
Münster 1961 - Privatdruck
Auslieferung: Walter Vitt, Münster/Westfalen, Heisstraße 17.

Treibende Kraft in der textlichen Begleitung der Hirsch-Gedichte war Eckehard Munck, der hier deshalb an erster Stelle der drei Herausgeber steht.

Wir möchten mit unserer Website die Begegnung (oder Wiederbegegnung) mit dieser Publikation von 1961 ermöglichen und damit klarstellen, dass auch Hirschlyrik nicht wie von selber entsteht, durch den Äther wabert, um schließlich ins Computersystem hineinzugleiten gleichsam wie cervographische Viren. Die »Anthologie der Forstlyrik« steht im Mittelpunkt unserer Website forstlyrik.de - weitgehend komplett wiedergegeben.

Der fast vierzigseitige kleine Band mit erfundenen Autoren-Namen, aber echten Herausgeber-Namen erschien damals als »Privatdruck« in zwei Auflagen: die eine mit schwarzem Umschlag und schwarzem Umschlagbild, die zweite in rotem Umschlag und rotem Umschlagbild. Bei der Auslieferungsadresse handelte es sich um meine damalige Studentenbude im Hof des Schlachtermeisters Haverkamp.

Unter Münsters Studenten (und auch unter den Professoren) war dies damals ein begehrtes literarisches Kaufobjekt. Und über die Büchernachlässe manch eines Ordinarius von damals gerät der Band noch heute in den antiquarischen Handel. Der Verfasser dieser Zeilen hatte vor einiger Zeit das Glück, das Exemplar aus der Bibliothek seines niederländischen Publizistik-Professors H. J. Prakke aus Groningen in einem niederländischen Antiquariat zu finden und (rück)erwerben zu können. Mit Prägestempel PRAKKE.

Zur Rezeptions-Geschichte der Hirschlyrik gebe ich gerne ein paar Hinweise. Ich erinnere mich, dass eine Hirsch-Apotheke - ich weiß nicht mehr, aus welcher Stadt - einige Dutzend Exemplare bestellte, um diese an ihre Kunden zu verschicken. Der Deutschlehrer Herward Krasemann aus Werdohl behandelte die Hirschlyrik in den 1960er Jahren in seiner Abiturklasse im Zuge einer Unterrichts-Reihe über avantgardistische Lyrik. Hohe Ehre für die Hirschlyrik, die sich plötzlich neben dadaistischen Texten wieder fand und auch in die Abitur-Zeitung dieses Werdohler Gymnasiasten-Jahrgangs Einzug hielt. Viele Schüler dieses Abitur-Jahrgangs werden diese Abi-Zeitung aufgehoben haben.

Im WDR hat sich die Moderatorin und Autorin Christine Lemmen, selber Publizistik-Studentin in Münster, mehrfach mit den Hirsch-Gedichten befasst: so am 28. Juli 1987 im »Morgenmagazin« auf WDR 2 und zuletzt am 3. November 1999 in ihrem Feature »Hubertustag 1999«, in dem sie mir auf WDR 5 Gelegenheit gab, einige der kapitalen Stanzen vorzutragen. Über den weiten Zeitraum hinweg von 1961 bis heute bin ich von den drei »Urhirsch-Vätern« der einzige, der die Thematik weiterzuentwickeln versucht hat und gelegentlich neue Hirsch-Stanzen veröffentlichte, z.B. »Neue Eifelhirsche« im 2. Eifel-Lesebuch »Leben - alle Tage«, hg. von Jochen Arlt und Manfred Lang, Pulheim 1994, woraus dann Reclams »Poetische Sprachspiele - Vom Mittelalter bis zur Gegenwart«, Hg. Klaus Peter Dencker, Reclam Nr. 18238, Stuttgart 2002, die Eifel-Hirsche zitiert haben.

Im Herbst 1999 nahm ich mit der Hirschlyrik - unter dem Pseudonym »Mini-Dada« - zusammen mit Robert Eid an der Themenausstellung »Vorsicht! Röhrender Hirsch« des Siegener Kunstvereins teil, an einer von Franz-Josef Weber kuratierten Schau, die das Thema facettenreich und zumeist recht ironisch umspielte. Die Originale der Zeichnungen Eids, die noch sämtlich existieren, schmückten die Wände einer Raumnische, die Hirschgedichte (mit ihren Quellen) durchliefen eine Lichtbandbox. Davor lag ein Gästebuch mit der Bitte an die Besucher, selber Hirschgedichte zu verfassen. Jeden Freitag fuhr ich von Köln nach Siegen, studierte die neuesten Eintragungen im Gästebuch und gab gelungene Verse in »Mini-Dadas forstlyrische Lichtband-Box« ein. Für jedes Siegener Hirsch-Gedicht löschte ich eines von den frühen Beispielen der Hirschlyrik. Am Ende der Ausstellung war Siegener Forstlyrik entstanden.

Mit dieser Website wollen wir die Begegnung oder Wiederbegegnung mit der »Anthologie der Forstlyrik« von 1961 ermöglichen - in ihren wesentlichen Bestandteilen und mit allen Zeichnungen von Robert Eid. Fünfzig Jahre nach der in Münster begonnenen wissenschaftlichen und editorischen Auseinandersetzung mit dem, was die Pioniere dieser Forschung »kapitale Stanzen« genannt haben, mag unsere Website zu einem neuen wissenschaftlichen und poetischen Anlauf herausfordern. Gilt noch immer, dass Hirschgedichte stets im Präsens stehen? Dass sie vom Hirsch etwas Allgemeingültiges aussagen müssen? Dass in einem Hirschgedicht jeder Hirsch, also »der Hirsch an sich«, gemeint sein muss? Gilt es noch immer für ausgeschlossen, einen bestimmten Hirsch mit einer ihm allein gehörenden Geschichte anzusprechen? Muss Hirschlyrik in jedem Falle so unlogisch sein wie vor 50 Jahren? Sollten erotische Hirschgedichte weiterhin als »verderbte Forstlyrik« gelten? Fragen über Fragen, die auf Antworten warten.

Gerne nehmen wir mit den Besuchern unserer Website nicht nur Kontakt auf, sondern möchten sie ermuntern, forstlyrisch oder auch veterinärphilologisch tätig zu werden.

Köln, im September 2009

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EIN HIRSCH, sobald er rigoros,
Ist vorne rund und hinten groß.

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