Der Beitrag der Forstlyrik zum Wissensstand über den Hirsch

Von Robert Eid

Aussagen über den Hirsch schließen Insiderwissen - das Fachwissen des Forstexperten, des Biologen - ein. Welch hohe Verantwortung nimmt derjenige auf sich, der dieses Wissen eigentlich nicht hat, seine Hypothese aber ohne empirische Absicherung weitergibt.

„Ein Hirsch mag zu dem Brot mit Schmalz,
’ne kleine Prise Hirschhornsalz.“

Man denke an die vergeblichen Versuche argloser Personen, einen Hirsch mit Schmalzbrot zu erfreuen. Beschränke ich meine Behauptung auf einen bestimmten, eventuell entarteten Hirsch, so gibt die Person die Fütterung im Falle des Misserfolges schnell auf, weil sie vermuten muß, daß sie den falschen Hirsch erwischt hat.
Einerseits hat die Reduzierung der Eigenschaften auf ein individuelles Exemplar eine Schutzfunktion für den arglosen Leser.
Andererseits: die Verse der Hirschlyrik sollten im Präsens stehen. Der Gebrauch des Präsens ist in allen Sprachen unter anderem naturgesetzlichen Phänomenen zugeordnet. “Die Sonne geht im Osten auf“ - nicht „Die Sonne ging im Osten auf“ und auch nicht „Die Sonne wird im Osten aufgehen“. Dadurch verwandelt dieses Tempus die erstaunliche Aussage über den Hirschen in etwas Allgemeingültiges, Naturgesetzliches. Gepaart mit Quellenangabe und anderen Belegen hat der Leser etwas imponierend Wissenschaftliches vor Augen und an der Hand, was ihn nun ebenfalls zum Experten, zum Insider macht, der sein Wissen stolz im Kreise seiner Freunde und Bekannten verbreiten kann. So schwimmen eben mormonische Hirsche schneller als zwölf Grammophone.

Nun warne ich jedoch davor, dem Neuling in Sachen Forstlyrik gleich mit der Erkenntnis über Grammophone zu kommen. Er muß in die Materie hineinwachsen, indem man ihn an eigene Erfahrung anknüpfen lässt. Etwa durch Verse wie:

„Ein Hirsch läuft abends durch den Wald,
nun wird es Herbst und damit kalt.“

Zugegeben, nichts Umwerfendes, aber wie gesagt: langsam heranführen.
Bald kann man den nächsten Schritt wagen.

„Ein Hirsch sich durch die Tundra trollt,
dieweil der Troll ihm grollt und schmollt.“

Mit der Gestalt des Trolls kommt ein zwar bekanntes, aber aus der realitätsfernen Märchen- und Sagenwelt stammendes Element hinzu. Die empirische Wirklichkeit wird durch diese neue Ebene erweitert. Aber da beide Ebenen der Erfahrung und dem Wissen des Lesers entsprechen, werden sie akzeptiert.
Listig knüpfen wir an den beim Leser gewonnenen Kenntnisstand an und konfrontieren ihn mit folgenden Versen:

„Ein Krähenschwarm sitzt im Gehörn,
das tut den Hirsch gewaltig stör’n.“

Es verwundert nicht, wenn der Hirsch die Aufdringlichkeit der Krähen als Belästigung empfindet. Man hat natürlich noch nie eine solche Situation erlebt, aber man weiß, dass Krähen zu allem Möglichen fähig sind. Zudem es ist ja schwarz auf weiß nachzulesen und obendrein anschaulich illustriert. Künftig sollte man viel intensiver und mit offenen Sinnen in Wald und Flur unterwegs sein, um seine Wissenslücken zu schließen, wer weiß, was Hirsche sonst noch tun.

Die Selbstverständlichkeit, mit der der Leser seine bisher gemachten Erfahrungen auf den Aussagewert der Forstlyrik übertragen hat, ist ins Wanken geraten. Er fragt sich, was wissen wir eigentlich über den Hirsch? Müssen wir uns nicht viel nachhaltiger mit dem Phänomen Hirsch beschäftigen?
Die nächste befremdliche Information wartet schon.

„Ein Hirsch mit Skiern auf der Pist,
weiß nicht, welch’ Bein das dritte ist.“

Jetzt dämmert es dem Leser, daß seine analytische Herangehensweise offensichtlich am Kern der Forstlyrik vorbeigeht. Messerscharf stellt er fest, dass erstens Hirsche nicht skilaufen und zweitens, dass natürlich der Hirsch über die Position seines dritten Beines informiert ist.
Die ganze Zeit über wurde der Leser manipuliert durch quasi unumstößliche Fakten zum Wesen und Erscheinungsform des Hirschs. Er wurde belogen, in die Irre geführt, nicht ernst genommen in seiner Urteilskraft!
Ihr Forstlyriker seid durchschaut! Wenn ihr diese Ebene der Desinformation wünscht, so werde ich das Heft jetzt selbst in die Hand nehmen. Auch ich kann die Regeln der Logik außer Kraft setzen und euch zeigen, was ein Hirsch ist.
So greift das gedankliche Chaos um sich. Da landen Hirsche auf dem Mond, stehen mit Kardanwelle auf einer Küchenschwelle, springen von Sprungbrettern, fressen Anthrazit usw.
Auflösung und Chaos allerorten?
Noch ist der Gipfel nicht erreicht.

„Ein Hirsch, dem Sport sehr zugetan,
zeigt uns vom Sprungbrett, was er kann.“

Der Hirsch aus der ersten Verszeile, der sich gern sportlich betätigt, verwundert uns schon nicht mehr. und die zweite Verszeile knüpft logisch an die erste Verszeile an. Natürlich zeigt uns der Hirsch dann auch seine Ergebnisse auf dem Gebiet des Brettspringens.
Wenn wir also die Wahrheit aus der ersten Verszeile akzeptieren, bilden beide zusammen wieder eine sinnvolle Einheit.

„Ein alter Hirsch nicht mehr komplett,
behilft sich mit ’nem dicken Brett.“

Die erste Verszeile stellt uns einen Hirsch vor, dessen Vorder- und Hinterteil nicht mehr zusammenhängen und einen chirurgischen Eingriff erfordern. Die zweite Verszeile liefert die Lösung des Problems. Ein dickes Brett, welches die Statik wiederherstellt.

Was jedoch ist von diesen Verszeilen zu halten?

„Ein Hirsch, der sich im Ausguss windet,
ist dennoch meistens halb erblindet.“

Die erste Zeile berichtet von einem für Hirsche ungewöhnlichen Ort. Die zweite berichtet über des Hirschs Sehleistung. Was haben diese beiden Sachverhalte miteinander zu tun? Als Gipfel der Unlogik wird uns auch noch durch das „dennoch“ ein absolut irrsinniger Kausalzusammenhang geliefert.

„Ein Hirsch, zumal wenn er Mormone,
schwimmt schneller als zwölf Grammophone.“

Religiöse Differenzierungen bei Hirschen sind schon erstaunlich genug, dass dieser Umstand aber eine bessere Schwimmleistung hervorbringt, lässt sich gedanklich nicht mehr nachvollziehen. (Auch die Frage, wieso Grammophone so langsam sind, wird nicht beantwortet.)

Wir befinden uns hiermit auf dem Gipfel der gedanklichen Unordnung. Das logische Chaos ist nicht mehr zu überbieten! Ist der Verfall nicht mehr aufzuhalten?

Doch die einzige Ordnungsmacht, die das Konstrukt der Forstlyrik zusammenhält, ist die äußere Ordnung. Der vierhebige Vers und der nicht immer reine Reim, an Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ orientiert. Der favorisierte Versbeginn „Ein Hirsch...“ ist ein weiteres Element der Harmonie in diesem Ordnungsrahmen.
Der Jünger der Forstlyrik erhält durch diese Ordnung das Gefühl der Sinnhaftigkeit seines Strebens zurück, das er gedanklich, logisch aufs Spiel gesetzt hat. Er unterwirft sich stattdessen dem Zwang des Formalen, um gegenüber dem gedanklichen Irrsinn ein Gegengewicht zu schaffen. Der Mensch ist wieder Bestandteil der göttlichen Harmonie und fügt sich ein in „The Great Chain of Being“, wie es das englische Mittelalter formuliert hat.

Und abends vor dem Einschlafen grübelt er darüber, ob ihm nicht noch zwei besonders blödsinnige Verse einfallen.

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Ein Hirsch mag zu dem Brot mit Schmalz
'ne kleine Prise Hirschhornsalz.

Ein Hirsch sich durch die Tundra trollt,
dieweil der Troll ihm grollt und schmollt.

Ein Krähenschwarm sitzt im Gehörn,
das tut den Hirsch gewaltig stör’n.

Ein Hirsch mit Skiern auf der Pist,
weiß nicht, welch’ Bein das dritte ist.

Ein Hirsch, dem Sport sehr zugetan,
zeigt uns vom Sprungbrett, was er kann.

Ein Hirsch, zumal wenn er Mormone,
schwimmt schneller als zwölf Grammophone.

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